SHAL: Anwendung beim Sit & Go Turnier

Um den weiteren Text verstehen zu können, musst du mit dem ICM – Independent Chip Model und Structured Hand Analysis – SHAL vertraut sein.

Ausgangslage

Du spielst No Limit Texas Hold’em in einem 20+2$ Sit & Go Shorthanded Turnier mit sechs Spielern. Der Sieger erhält 84$, der Zweitplatzierte erhält 36$, alle anderen Spieler gehen leer aus. Es sind noch drei Spieler dabei. Alle haben genau 3’000 Chips, bevor sie die Blinds posten (soeben auf 150 / 300 gewechselt und bleiben noch 8 Minuten so):

  • Spieler A (Du, auf Button), 3’000 Chips
  • Spieler B (Small Blind), 3’000 Chips
  • Spieler C (Big Blind), 3’000 Chips

So wie du deine Gegner einschätzt gehst du davon aus, dass sie ein All-In von dir nur dann callen, wenn sie AA, KK, QQ, JJ, TT, 99, 88, AKs, AKo, AQs, AQo, AJs oder KQs haben. Solche Situationen gibt es sehr häufig.

Die Frage, die es nun zu beantworten gilt, lautet: Push or Fold?

Fragestellung 1

Ist es profitabel, in dieser Situation mit T2o All-in zu gehen?

Jetzt kommt das HDM – kurz für Hand Distribution Model – zum Einsatz, welches Hand in Hand mit dem SHAL eingesetzt wird. Es geht darum zu ermitteln, wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass einer deiner Gegenspieler eine solche Hand hält und dich tatsächlich callen wird.

Bei Texas Hold’em gibt es insgesamt 1’326 verschiedene Starthände (6x AA, 6x KK, 12x AKo, 4x AKs usw.). Es gibt insgesamt 52 Karten, also müssen wir 51 * 52 rechnen, was 2’652 Hände gibt. Da es aber keine Rolle spielt, ob Du 2To oder T2o hast, müssen wir diese Zahl halbieren und kommen so auf die erwähnten 1’326 verschiedenen Kombinationen.

Dein Gegner wird mit 79 dieser Starthände callen. Du kannst dies selber wie folgt addieren: AA (6), KK (6), QQ (6), JJ (6), TT (3), 99 (6), 88 (6), AKs (4), AKo (12), AQs (4), AQo (12), AJs (4), KQs (4).

Achtung: TT nur drei Mal zählen, da du selbst T2o hast und somit nur noch drei andere TT Kombinationen möglich sind.

Jetzt ganz wichtig! Da wir deine Starthand kennen, nämlich T2o, fallen zwei Karten weg. Es sind somit nur noch 1’225 andere Starthände möglich! 79 davon könnten deine Gegenspieler haben, das heisst, auf einen einzigen Gegner bezogen wird in 79 von 1’225 Fällen gecalled. Dies gibt eine Wahrscheinlichkeit von 6.45 %, dass ein einzelner Gegner called. Wir müssen nun mit der Gegenwahrscheinlichkeit rechnen. Das heisst, die Wahrscheinlichkeit, dass ein Spieler foldet, liegt bei 93.55 %. 93.55% hoch 2 (für zwei Spieler) ergibt eine Wahrscheinlichkeit von 87.5 %, dass beide Gegner folden!

Wir haben somit zwei mögliche Resultate der obigen Situation. Der Einfachheit halber gehen wir davon aus, dass nie beide Gegner callen werden!

  • Resultat A: beide folden.
    In 87.5 % der Fälle trifft diese Situation so ein. Der erwatete Gewinn, der durch das Folden entsteht, nennt sich Folding Equity!
    Du hast dann 3’450 Chips, Spieler B hat 2’850 Chips und Spieler C hat noch 2’700 Chips. ICM technisch gesehen liegt dein erwarteter Gewinn beim Turnier nun bei 44.51$.
  • Resultat B: du wirst gecalled. Dies trifft in 12.5 % der Fälle ein.

Mit unserem weiter oben bereits zur Genüge erwähntem Tool Pokerstove (inzwischen müsstest du es schon längst heruntergeladen und installiert haben, es ist gratis!) rechnen wir aus, dass deine Equity mit T2o gegen die erwähnten Starthände bei 22.36 % ist. Schlecht…

Wir machen wieder die Independent Chip Model Berechnung für die beiden Fälle: Dein erwarteter Wert liegt gemäss ICM bei 69.20$, wenn du hier gewinnst. (Für die Berechnung sind wir davon ausgegangen, dass in 50% der Fälle der Small Blind called und in 50% der Fälle der Big Blind). Wenn Du verlierst, ist dein erwarteter Gewinn gleich Null, da du ausgeschieden bist. Diese Situationen müssen wir nun nach Eintrittswahrscheinlichkeit gewichten:

  • In 87.5% der Fälle steigt dein erwarteter Gewinn auf 44.51$, dies ergibt einen gewichteten Wert von 38.94$
  • In 2.80% der Fälle (2.80 = 22.36 % von 12.5 %, dass du gecalled wirst) steigt dein erwarteter Gewinn auf 69.20$, dies ergibt einen gewichteten erwarteten Gewinn von 1.94$

Diese beiden Werte ergeben zusammen einen erwarteten Gewinn von 40.88$, wenn du All-In pushst. Wie hoch liegt dein erwarteter Gewinn, wenn du in dieser Situation foldest?

Vor der Hand hatten alle einen erwarteten Gewinn von 40$. Hierfür machen wir auch ein kurzes Modell:

In 20% der Fälle folden beide hinter dir. Erwarteter Gewinn von dir bleibt 40$. Gewichtet 8$. In 10% der Fälle gibt es in der nächsten Hand (vor oder nach dem Flop) ein All-in und ein Call. In diesem Falle wächst dein erwarteter Gewinn auf 52$. Gewichtet sind dies 5.2$. In den anderen 75% der Fälle werden Blinds gestohlen, oder es gibt einen kleineren Pot für einen der anderen Spieler. Dein erwarteter Gewinn liegt dabei im Schnitt bei 41$. 75% von 41$ sind 30.75$.

Wenn du foldest, liegt dein erwarteter Gewinn nach der Hand bei 43.2$. Hier wird veranschaulicht, wie am Bubble dein erwarteter Gewinn leicht ansteigt (wenn alle Spieler ungefähr gleich viele Chips haben), wenn du keine Blinds bezahlen musst und foldest.

All-In Pushen ergibt einen erwarteten Gewinn von 40.88$. Ein Fold gibt einen erwarteten Gewinn von 43.2$. Somit ist es in dieser Situation nicht profitabel mit T2o All-In zu pushen. Du solltest folden!

Fragestellung 2

Welche Hand musst Du bei der Situation von Fragestellung 1 haben, um profitabel All-In gehen zu können?

Diese Frage musste ja kommen! 😉

Keine Angst, wir rechnen nicht noch einmal alles aus. Wir wissen von Fragestellung 1, dass bei einem Fold der erwartete Gewinn auf 43.2$ ansteigt. Um profitabel All-In zu pushen, brauchen wir somit eine Hand, die den erwarteten Gewinn auf über 43.2$ ansteigen lässt.

Einige Werte von Fragestellung 1 sind fix:

  • Der gewichtete erwartete Gewinn beim Folden beider Gegenspieler liegt bei: 38.94$
  • Um auf die geforderten 43.2$ zu kommen, muss zusätzlich im Falle eines Calls 4.26$ an erwartetem Gewinn dazu kommen.
  • Falls du gecalled wirst (in 12.5% der Fälle) und gewinnst (x), steigt dein erwarteter Gewinn auf 69.20$. Dies ergibt folgende Formel: 69.20$ * 12.5% * x >= 4.26$ (Wer sagt jetzt, man habe in der Mathematik nichts Wichtiges gelernt? Formel auflösen!)

    x = 4.26 $ / (69.20$ * 12.5%)

    Somit ist x = 49.24%.

Wir müssen demzufolge mit einer Hand All-In pushen, die mindestens 49.24% Equity gegen AA, KK, QQ, JJ, TT, 99, 88, AKs, AKo, AQs, AQo, AJs oder KQs hat.

Wieder einmal nehmen wir Pokerstove zur Hand. Die Equity sieht wie folgt aus (Fett = Push All-In!):

  • JJ = 52.64 % (QQ bis AA haben logischerweise bessere Werte)
  • TT= 46.55 % (nicht all-in pushen! Auch alle niedrigeren Pärchen nicht all-in pushen!)
  • AQs=41.79%. Achtung, dieser Fall sieht klarer aus als er ist. Wenn du AQs hast, werden diene Gegner weniger oft callen, da sie selbst weniger oft AK, AKs, AQ, QQ, AA etc. haben. Deine Folding Equity steigt somit.
  • AKo=46.98%. Dieser Fall dürfte knapp profitabel sein, da AA, KK, KQ etc. weniger oft verteilt sind und somit Folding Equity steigt

Schlussfolgerung 1

Müssen nun niedrige Pärchen bis zu TT gefoldet werden? Nein, mit kleinen Pärchen solltest du sicher raisen, aber wenn du dann All-In gereraised wirst oder du wirst gecalled und der Flop kommt KJ2 und dein Gegner geht All-In, geht die Rechnung von vorne los…

Genau darum liebe ich No Limit Texas Hold’em in Turnierform. Die beteiligten Spieler haben jeweils nur zwei unbekannte Karten, dennoch entstehen ständig so viele wundervoll komplexe Situationen! Es dürfte klar sein, warum Texas Hold’em der Cadillac of Poker genannt wird. Es ist unheimlich komplex und niemand wird davor verschont, unprofitable Entscheidungen zu treffen, auch ein Gus Hansen oder Phil Hellmuth nicht!

Schlussfolgerung 2

Rechne die identische Situation mit Blinds 400 / 200 und 500 / 250 durch! Du wirst überrascht sein, wie rapide die Anforderungen an deine All-In Hände sinken!

Je höher die Blinds im Vergleich zu den Stacks sind, desto tiefer sind die Anforderungen an deine Hände, um profitabel All-In zu pushen.

Schlussfolgerung 3

Im obigen Beispiel wissen wir, womit unsere Gegner callen werden. Es ist wichtig, dass du deine Gegner einschätzen kannst. Hat einer deiner Gegner schon früher ein All-In mit KTo gecalled? Womit wird er callen? Rechne mal obiges Beispiel durch, wenn deine Gegner mit einer Hand, die zu den 20% der besten Heads-Up Starthände gehören, callen (kann man übrigens bei Pokerstove auch einstellen). Das wären dann folgende Hände:

  • 66+, A4s+, K8s+, Q9s+, J9s+, T9s, A9o+, KTo+, QTo+, JTo

    66+ bedeutet, dass alle Pärchen 66 und höher gecalled werden. A9o+ bedeutet, dass mit A9o, ATo, AJo, AQo und AKo gecalled wird usw.

In 64 % der Fälle folden beide Gegenspieler. In den restlichen 36 % hast du mit T2o eine Equity von 27.577%. Dein gewichteter erwarteter Gewinn sinkt in derselben Situation auf 35.36 $!

Es ist paradox, aber insbesondere bei Sit & Go Turnieren am Bubble gilt: 

Je niedriger die Hemmung deiner Gegner ist, ein All-In zu callen, desto besser muss deine Hand sein, um selbst profitabel All-In zu pushen! Deine Folding Equity sinkt zu sehr, um dann profitabel mit jedem Müll zu pushen!

Schlusswort

Selbstverständlich ist es während des Spiels unmöglich, diese Berechnungen im Kopf durchzuspielen. Poker ist ein Spiel, das nur mit viel Erfahrung beherrscht werden kann. Turnierpoker ist in der Komplexität eine Stufe höher als Cashgame Poker. Es lohnt sich deshalb, nach verlorenem oder gewonnenem Turnier nochmals einige Situationen durchzurechnen, um sein eigenes Spiel ständig zu verbessern. 

Bei Sit & Gos sind die Konzepte SHAL und ICM in Kombination angewendet der allerwichtigste Schlüssel, um langfristig den Profit zu steigern! Wer SHAL und ICM am Bubble-Play beherrscht, sieht seine Chips als Anlageinstrument und nicht als Waffe blinder Aggression.